Mehr Sein als Schein

Mehr Sein als Schein

Gemeinden in Nordostoberfranken auf dem Weg zu "Sorgenden Gemeinschaften"

Es ist ein stilles land, in dem ich lebe.
Jedes Mal, wenn ich von Sitzungen in der Großstadt wieder in die heimischen Gefilde komme, spüre ich, wie gut das tut. Der Brustkorb weitet sich. Die Dinge ordnen sich. Ich atme freier. Die Ruhe in des Wortes wahrster Bedeutung ist die große Stärke dieser Region. So ruhig dieses land ist, so hart war es doch immer, hier zu leben. Das Klima ist, auch in diesen Zeiten des Klimawandels, rau, der Boden nicht besonders fruchtbar. Und weil es Wald gibt und damit Holz und im Boden die nötigen Rohstoffe, schlug hier einst das Herz der deutschen Porzellanindustrie. Nach dem Niedergang in den 1990er- und 2000er-Jahren ist man seit einiger Zeit dabei, sich neu zu berappeln.

Mehr Sein als Schein

All dies prägt die Menschen, die hier leben. Hier ist man gewohnt, sich selbst zu helfen, auch deswegen, weil man sich zumeist auf sich selbst gestellt sah. Und: Man ist bescheiden. Mehr Sein als Schein. In einer Zeit, in der es vor allem darauf ankommt, möglichst viel aus sich zu machen und die Einzigartigkeit der eigenen Region in die Schaufenster der Welt zu stellen, ist das nicht immer von Vorteil. Doch man lernt dazu. Immer deutlicher wird den Menschen, in was für einer traumschönen landschaft sie leben, und ihr Stolz darauf und ihr Selbstbewusstsein wachsen. Gott sei Dank.

Der Prozess mus gestaltet werden

Die Region hat mit typischen Herausforderungen zu kämpfen. Deren wichtigste ist vermutlich die Bevölkerungsstruktur. Viele der Jüngeren verlassen die Region in Richtung der Ballungszentren. Dabei sind es schon lange nicht mehr die Arbeitsplätze, an denen es mangelt. Hier hat ein wendiger Mittelstand längst für Abhilfe gesorgt. Die Gründe liegen eher in den Wertzuschreibungen, die ein urbaner lebensstil unter jungen, gut ausgebildeten Menschen erfährt. Die Folgen sind bekannt: Die Bevölkerung altert im Durchschnitt schneller. Es bleibt weniger Geld in der Region. Die Kassen der Kommunen sind notorisch klamm. Selbst Pflichtaufgaben können kaum noch erfüllt werden. Gleichzeitig steigen die Pro-Kopf-Ausgaben für die Versorgung der Bevölkerung. Alles zusammen verstärkt die beschriebene Entwicklung zusätzlich. Vor allem aber: Dieser Prozess lässt sich nicht kurzfristig umkehren. Darum gilt es, ihn zu gestalten.

Kirche bietet Verlässlichkeit

Genug Stoff also, um sich mit der Entwicklung Sorgender Gemeinschaften in der Region zu beschäftigen. Was das System der parochial verfassten Gemeindekirche hier immer noch leistet, ist erstaunlich und mit Sicherheit zu einem guten Teil Grund für die relative Stabilität. die die Kirche in den ländlichen Räumen Oberfrankens kennzeichnet. Hier gilt, was für viele ländliche Regionen gilt: räumliche Nähe und verlässliche Beziehungen, eine Vielzahl ehrenamtlich Mitarbeitender in Chören, BesuchsdiensJen und Gremien, noch immer relativ geringe Austrittszahlen. Vor allem aber: die Bereitschaft, Kirche als eine wich.tige Gesprächspartnerin im öffentlichen Raum ernst zu nehmen. Wer mit öffentlichen Verantwortungsträgern ins Gespräch kommt, ist manchmal berührt und erstaunt zugleich über das, was der Kirche hier noch zugetraut, aber auch von ihr erwartet wird. Das alles birgt Chancen für die Partnerschaft von Gemeinwesen und Kirche.

Egal ob Sozialkaufhaus oder Imbisswagen

Wer immer auf die Weiterentwicklung der Gemeinden hin zu Sorgenden Gemeinschaften lust machen möchte, tut also gut daran, auf die Stärken und Initiativen in der Region aufzusatteln. Nebenbei: ))Die Stärken stärken" ist auch der Grundsatz des Netzwerks "Gemeinsam für die Region", das an unserem Evangelischen Bildungszentrum Bad Alexandersbad angedockt ist. Und Stärken gibt es, auch im sozialdiakonischen Bereich, schon jetzt eine ganze Reihe. Da gelingt es einer Gemeinde seit Jahren, mit hohem Engagement ein Sozial kaufhaus zu betreiben; vor Kurzem kam ein Imbisswagen hinzu. Das alles mit dem Ziel, weniger solventen Mitbürgern Versorgungsmöglichkeiten zu schaffen. Eine andere Kirchengemeinde ist Mitinitiatorin und Mitbetreiberin des Dorfladens am Ort. Die Diakonie vor Ort hat einen Besuchsdienstkreis für Demenzkranke ins leben gerufen. Die Besuchenden werden ausgebildet und erhalten Supervision. Weitere Beispiele ließen sich ohne Mühe aufzählen.

Respektable Anfänge

Dies alles sind noch keine Sorgenden Gemeinschaften im Vollsinne des Wortes. Doch es sind respektable Anfänge, die eine Sensibilität der Kirchengemeinden für die Anliegen der Gemeinwesen an den Orten, an denen sie leben, bezeugen und auf die sich aufbauen lässt.

Ideen gibt es viele
Wie also könnte es weitergehen? Ein wenig träumen sollte erlaubt sein. Warum sollte nicht ein vor allem in den Abendstunden genutztes Gemeindehaus, das für die Kirchengemeinde zunehmend zur finanziellen Last wird, tagsüber zum Generationenzentrum eines Dorfes werden? Warum nicht mit der Kommune über die gemeinsame Finanzierung eines Umbaus ins Gespräch kommen? Ältere aus dem Ort treffen sich hier, kochen füreinander und begleiten Kinder und Jugendliche, die am Spätnachmittag noch niemanden zu Hause vorfinden, weil beide Elternteile arbeiten. Vielleicht ist hier sogar Hausaufgabenhilfe möglich? Warum nicht auch abends die Schafkopfrunde einziehen lassen, weil es die Dorfwirtschaft schon lange nicht mehr gibt? Warum nicht hier eine Tauschbörse für kleinere Dienstleistungen wie Einkäufe und Besorgungen andocken? Auch Konfirmanden könnten hier einbezogen werden.

Gelegenheiten schaffen

Dabei geht es nicht allein um gegenseitige Hilfeleistung. Menschen erfahren sich in ihrer Selbstwirksamkeit. Das schafft Zufriedenheit bei Älteren, und bei Jüngeren stärkt es die Bleibeperspektive in Abwanderungsregionen. Denn: Was mir sinnvoll erscheint, ist auch attraktiv. letztlich geht es also darum, Gelegenheiten zu schaffen, die Teilhabe und Teilgabe ermöglichen. Freilich sind die Voraussetzungen von Gemeinde zu Gemeinde sehr unterschiedlich, und vieles ist zu berücksichtigen: Wie z. B. gelingt eine gerechte Gemeinschaft von Frauen und Männern im Bewusstsein, dass Frauen jetzt schon die Hauptlast der häuslichen Pflege und des sozialen Ehrenamtes tragen? Welche finanzielle und hauptamtliche Unterstützung erfahren Gemeinden, die sich auf den Weg zu Sorgenden Gemeinschaften begeben? Rechtliche Fragen kommen hinzu.

Wichtige Rolle

Manche Ideen werden sich umsetzen lassen, andere Versuche weniger Aussicht auf Verwirklichung haben. Glücklich diejenigen, die sich dabei auch auf die Möglichkeit des Scheiterns einlassen können. Warum nicht auch das? Sicher ist nur: Anders als dadurch, dass wir uns auf den Weg machen, werden wir es nicht herausfinden. Auf diesem Weg spielen ländliche Bildungszentren, wie das Evangelische Bildungszentrum Bad Alexandersbad, eine wichtige Rolle für die Information, die Fortbildung und den gegenseitigen Austausch von Gemeinden. Ideen, Praxisbeispiele, aber auch einige der hier gestellten Fragen wurden im Oktober 2019 auf einer ersten Tagung zu Sorgenden Gemeinschaften am EBZ Bad Alexandersbad ausgetauscht, die dort in Zusammenarbeit mit dem Amt für Gemeindedienst stattfand. Eingeladen waren Vertretende von Kirchengemeinden und Kommunen. Noch in diesem Jahr soll sie eine Fortsetzung erfahren.

Die Quelle, aus der wir schöpfen

Schließlich: Gelegentlich geschieht es, dass das Konzept einer sozialraumorientierten "Kirche für andere" schlagwortartig gegen die angebliche Selbstbezüglichkeit kirchengemeindlicher Arbeit aufgerufen wird. Das erscheint wenig hilfreich. Erstens verlockt es nicht zu weiteren Schritten in Richtung Sorgende Gemeinschaften, sondern erzeugt berechtigt Widerstand. Zweitens zielt es am Selbstverständnis vieler ehrenamtlich Mitarbeitender vorbei. Vor allem aber greift es theologisch zu kurz. Wenn gilt, was uns seit den Tagen Wicherns ins Stammbuch geschrieben ist - "Die Liebe gehört mir wie der Glaube!<, -, dann ist damit ja gerade die gegenseitig inkommensurable Bezogenheit von Verkündigungsund Liebeshandeln der Kirche festgehalten. Ein wesentlicher Beitrag der Kirche zu Sorgenden Gemeinschaften wird darum eben auch das Angebot geistlicher Gemeinschaft sein und bleiben. Sie ist die Quelle, aus der wir schöpfen. Die Frage, die zu bearbeiten ist, lautet vielmehr: Wie ist das eine mit dem anderen so zu verbinden, dass diese Beziehung immer wieder deutlich wird? Diesen Blick zu pflegen ist ebenso wichtig für die Entwicklung Sorgender Gemeinschaften, wie es nötig sein mag, manchen alten Zopf abzuschneiden. Denn die Möglichkeiten einer Gemeinde, mögen sie noch so bescheiden sein, erfahren so betrachtet ein unerlässliches Reframing: Aus knappen Ressourcen werden die reichen Gaben des Dreieinigen Gottes, mit denen zu wuchern uns aufgetragen ist - der eigentliche Sinn des Gleichnisses von den anvertrauten Pfunden.